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Soziale Komplexität in Leadership


Bei aller Selbstverständlichkeit für den Begriff „Komplexität“ möchte ich auf einige Grundideen und Theorien eingehen, die mir persönlich beim Annähern an und Akzeptieren von Komplexität geholfen haben und mich noch heute bei der Orientierung in der aktuellen VUKA-Welt unterstützen.

In Gesprächen mit Personen mit hoher Verantwortung aus Industrie und Wirtschaft ist mir oft aufgefallen, dass – insbesondere auf der Führungsebene – die soziale Interaktion in den allermeisten Fällendie Herausforderung schlechthin bedeutet.

Inhalt und Verlauf eines Kommunikationsprozesses war im vergangenen Jahrhundert Gegenstand der Untersuchung der Wissenschaftler um den Mathematiker Norbert Wiener. Sie erforschten, wie Maschinen untereinander und Menschen untereinander Information austauschen. In diesem Text möchte ich vielmehr auf den Informationsaustausch zwischen Menschen, und zwar im Leadership, eingehen.

Da die Komplexität unseres Gehirn und seiner Funktionen für uns kaum zu verstehen und rational nachvollziehbar ist, ist uns das Unverständnis einer anderen Person oft unverständlich. Das hat seinen Grund.Der norwegischer Philosoph Jostein Gaarder drückte es so aus: „Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, daß wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es doch nicht verstehen würden.“

Das Anerkennen und Akzeptieren dieses Unwissens oder des Nichtverstehens ist der erste Schritt zur Selbstmotivation, um Phänomene oder, sagen wir, Ereignisse zu hinterfragen und um Weiterentwicklung aufrechtzuerhalten. Gleiches gilt für die von uns erzeugte komplex vernetzte Welt durch das Internet und die Digitalisierung.

Da unsere Welt immer komplexer wird, streben wir – wie wir es auch in früheren Zeiten getan haben – in unserem privaten und beruflichen Leben nach Kontrolle und Herrschaft über die Geschehnisse oder sogar über Menschen. Komplexe Systeme können wir aber nicht beherrschen, egal wie sie organisiert sind.

Und wenn Sie als Führungskraft an dieser Herausforderungen festhalten wollen, immer noch mit dem Wunsch, ein System wie das Denken und Verhalten eines Ihrer Mitmenschen zu beherrschen und kontrollieren zu wollen, dann wird es für Sie oft ungemein schwer sein, sich mit Ihren Kollegen zu verständigen und zu interagieren.


Kybernetik: Das Wunder der Natur! So lautet zumindest der Filmtitel eines französischen Films. Der Zuschauer wird vom Protagonisten eingeladen, die Natur mit Kindesaugen zu entdecken. Falls Ihnen diese Darstellung merkwürdig und mit kindlicher Neugier behaftet erscheint, dann möchte ich so weiterverfahren. Der Begründer der allgemeinen Systemtheorie Ludwig von Bertalanffy wandte sich vor etwa 80 Jahren den Themenkomplexen wie Biophysik der offenen Systeme und der Thermodynamik lebender Systeme zu und schrieb darüber die bedeutendsten Arbeiten. Diese erkenntnistheoretischen Arbeiten resultierten aus Beobachtungen der Natur mit neugieriger Aufmerksamkeit.

Der eingangs erwähnte Norbert Wiener und etwa dreissig der berühmtesten Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts aus verschiedenen Disziplinen arbeiteten im Rahmen der berühmten Macy-Konferenzen ihre sog. Theorien zur Praxis aus. Dabei entstand eine neue Wissenschaftsdisziplin: Kybernetik. Die Fragestellung lautete nicht nur, was lebende Systeme machen, sondern wiesie es tun. Das heisst, wie die belebte Natur oder der menschliche Körper sich organisieren und ihr inneres Funktionieren regulieren, um ihr Überleben zu sichern, ihr Wachstum aufrechtzuerhalten und ihre Entwicklung zu fördern. 

Darüber hinaus, und das war die Kernidee von Norbert Wiener, wollten die Forscher herausfinden, wie die einzelnen Bestandteile untereinander kommunizieren, zum Beispiel wie das Gehirn Informationen an die Muskulatur sendet, um die Beine zu bewegen, ohne dass dabei der Mensch sein Gleichgewicht verliert und hinfällt. Das heisst, wie sie Nachrichten bzw. Signale untereinander übertragen. So entstand der Begriff des Feedbacks oder auch Rückmeldungsschleife genannt. Diese Rückmeldungsschleife findet sich in unserer verbalen Kommunikation als zirkuläre Interaktion wieder.

Zirkulär heisst in diesem Kontext: Ich erzähle Ihnen etwas, Sie hören es sich an, Ihr Gehirn nimmt es über die Sinneskanäle des Hörens auf und verarbeitet es, um es zu verstehen. Daraufhin überlegen Sie sich etwas als Rückmeldung auf das Gesagte und Sie erzählen mir wiederum etwas usw.

Das Anliegen der Wissenschaftler um Kybernetik war nicht, komplexe Systeme verstehen und beherrschen zu wollen, sondern in den verschiedenen Systemmodellen Muster und Funktionen zu erkennen und entsprechende Schlüsse zu ziehen.

Unsere biologische Entwicklung hat dafür gesorgt, dass unser Körper nach so einer langen evolutionsbiologischen Entwicklungsgeschichte so perfekt funktioniert. So sollten wir ihr mit einem gewissen Vertrauen in ihr Funktionieren begegnen. Allein schon deshalb, weilwir solche lebende Systeme nicht vollständig beeinflussen können.

Auf dieses Vertrauen plädiere ich in der Kommunikation, weil das Verstehen und Missverstehen zu den menschlichen Bedingungen, der sog. Condicio Humana, gehören.

Meine Beobachtung ist, dass das Vertrauen in selbst organisierte Systeme nur spärlich vorhanden ist. In der Fachpresse wird darüber oft im unternehmerischen Kontext geschrieben, jedoch meist mit einem skeptischen Blick. Obwohl Selbstorganisation in der Natur unsere Existenz von Grund auf bestimmt, haben wir bisher offensichtlich noch keine Möglichkeit gefunden, um sie in unserem Leben bewusst zu integrieren, anzuerkennen und ein Verstehen dafür zu entwickeln.

In Zeiten wie dieser wird eine gewisse Offenheit gegenüber selbstorganisierenden Systemen, insbesondere in Unternehmen, eine Grundvoraussetzung sein, damit wir uns in der sozio-digitalen Gesellschaft und den damit verbundenen unternehmerischen Entwicklungen zurechtfinden.

Gerade weilwir selbstorganisierende Systeme nicht linear kausal beeinflussen und ihr Verhalten voraussagen können, sollten wir erst einmal Akzeptanz für ihr Funktionieren aufbringen. Denn, wie es in der Psychologie heisst: vor jeder Veränderung steht das Verstehen und Akzeptieren!


„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Heinz von Foerster

Mir fällt auf, dass wir in einer Zeit leben, in der wir „angeblich“ für alles eine Erklärung zu haben scheinen. Da Komplexität (Unvorhersagbarkeit) in unserem Alltag immer mehr Einzug hält und „fühlbar“ wird, erkennen wir hin und wieder, dass uns, um es unverschämt einfach auszudrücken, immer wieder etwas durch die Lappen geht. Demnach halte ich es für umso wichtiger, aufmerksam zu beobachten, Schlüsse zu ziehen und Erkenntnisse zu gewinnen, anstatt zu glauben, dass wir schon alles wissen und dadurch das Lernen und die Weiterentwicklung verhindern. Diese Erkenntnisse können wir mit weiteren Erfahrungen kombinieren und solche Kombinationen sind wiederum neu zu überdenken, zu integrieren oder auch zu verwerfen, je nach Umweltbedingungen.


Komplexität

Ich möchte das Versinken in allgemeinen Selbstverständlichkeiten vermeiden und Komplexität aus der Sicht der Etymologie, also der Wortherkunft, kurz darstellen. Ich halte es für unentbehrlich zu erwähnen, dass zwischen den Begriffen „komplex“ und „kompliziert“ ein feiner Unterschied existiert, weshalb sie nicht verwechselt werden dürfen.

Komplexstammt vom lateinischen Wort complexusab, das sich aus den Teilen cum(mit, zusammen mit) und plectere(flechten oder ineinander fügen) zusammensetzt. Es bedeutet somit „miteinander verflochten“. Kompliziertentstammt dem lateinischen Begriff complicare, der sich von plicare(flechten) ableitet und „zusammenfalten“ im Sinne von „verwickelt“ bedeutet. Dieser feine Unterschied bringt mich auf den Gedanken von Ludwig Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Demnach verwenden wir das Wort „komplex“ für die Bezeichnung von etwas, das nicht genau nachvollziehbar ist wie der menschliche Organismus mit all seinen Unklarheiten und Unvorhersehbarkeiten. Mit kompliziert beschreiben wir Systeme, die vorhersagbar und analysierbar sind.

Bezüglich eines Unternehmens, das nach und nach aufgebaut wird und nachvollziehbare Prozesse produziert, wird in der Fachliteratur, zum Beispiel im St. Galler Management-Modell, nach wie vor die Bezeichnung von Heinz von Foerster zitiert und dabei auf die beiden Begriffe trivialeund nicht-triviale Systemehingewiesen.

Mit nicht-trivial ist zum Beispiel das Verhalten von Menschen und ihre Interaktion in sozialen Systemen gemeint. Und als trivial werden analysierbare, nachvollziehbare und voraussagbare Prozesse und Systeme wie zum Beispiel die Fertigungsmaschinen in einer Fabrik bezeichnet.


Dualismus von Mensch und Maschine

Gemäss Prof. Dr. Christian Schubert ist Neuroimmunologe die heutige Auffassung, wie wir Menschen uns gegenseitig sehen und behandeln. Vollkommen ausser Acht lassen wir die Komplexität des menschlichen Organismus und des Gehirns. Dies, obwohl seit spätestens der 50/60er-Jahre bekannt ist, dass in unserem Körper und insbesondere in unserem Gehirn das Gesetz der Wechselwirkung und nicht die lineare Kausalität herrscht. So gesehen lässt sich sagen, dass überall, wo wir Menschen „am Werk“ sind, Unklarheiten entstehen.

„2 x 2 = grün“, diesen Titel trägt ein Audio-Vortrag des Physikers und Mathematikers Heinz von Foerster. Die Idee dahinter ist folgendes Beispiel: Wenn Sie ein Kind fragen, wie viel 2 x 2 gibt, und es antwortet grün, verhält sich das Kind nicht „berechenbar“ bzw. nicht trivial genug, sonst hätte es mit 4 geantwortet. Aber niemand käme nur ansatzweise auf die Idee zu fragen: Wie kommst du denn auf grün? In ähnlicher Weise begegnen sich Menschen in Unternehmen immer noch und lassen diese von Natur aus gegebene Fähigkeit, Ansichten in vielfältiger Weise aufzunehmen und zu kooperieren, ausser Acht.

Ein kurzes Gedicht des österreichischen Lyrikers Erich Fried bringt diesen Gedanken zum Ausdruck.

«Er sagt: ‹Ich kann dich lesen

wie ein offenes Buch.›

Und er glaubt, dass er jedes Buch,

das er liest auch verstehen kann.»


Gilbert J.B. Probst, Professor für Unternehmungsorganisation an der Universität Genf,schreibt in seinem Buch Selbstorganisation(1987): „Kommunikative, symbolische Prozesse sind eine Eigenschaft humaner sozialer Systeme, der besondere Beachtung gehört.“Demnach ist der kommunikative Austausch ein zirkulärer interaktiver Prozess, mit folgenden Möglichkeiten: sprechen, hören, annehmen, deuten, überlegen, Gedanken konzipieren und antworten oder fragen.

Wann immer uns die Überforderung der Möglichkeiten droht, ist es weise, sich auf die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten zu besinnen.

Das kann uns zur Entspannung und zur Übersicht über die Dinge verhelfen, damit wir erneut eine klare Sicht auf die Aspekte unseres Lebens bekommen, auf die es in den Momenten des Austauschs zwischen uns und unserer menschlichen Umgebung ankommt.

Unser Vertrauen in das Menschsein und in unsere Eigenschaft, etwas nicht zu wissen, hilft uns, immer wieder Neues dazuzulernen, um jede Art von Entwicklung aufrechtzuerhalten und zu fördern – und uns selbst täglich ein Stück weit besser kennen zu lernen, zu verstehen und uns „näher“ zu kommen.

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