Researchgate: http://dx.doi.org/10.13140/RG.2.2.22833.66402

Heutzutage stellt sich nicht mehr die Frage, ob Frauen in Führungspositionen von Unternehmen befördert werden sollen oder nicht, sondern vielmehr, wie dies geschehen soll. Dabei sollte aber nicht bloss den Zahlen in den Statistiken Genüge getan werden, damit Unternehmen sowie öffentliche Organisationen mit ihrer Fortschrittlichkeit glänzen können, wofür der Fachbegriff Tokenism (auf Deutsch Alibi-Massnahme) geprägt wurde, auf den ich weiter unten eingehen werde. Zudem stellt die Systemrechtfertigung (System Justification) eine weitere Hürde dar. Das heisst, dass unterrepräsentierte Gruppen wie in diesem Fall die Frauen ihre gegenwärtige Situation in ihrem Umfeld als sowohl als legitim als auch als gerechtfertigt empfinden und sie sogar befürworten. In den vergangenen Jahrzehnten gab es zahlreiche Beispiele dafür, dass potenzielle männliche Führungskräfte teilweise aus Bequemlichkeit (wenn auch in durchaus guter Absicht) in Führungspositionen befördert wurden. Als diese dann ihr neues Amt ausführten, mussten die Verantwortlichen im Nachhinein feststellen, dass es Versäumnisse bei der Überprüfung von Persönlichkeitseigenschaften hinsichtlich Führungsqualitäten sowie in Bezug auf den Umgang mit emotionalen, mentalen und sozialen Herausforderungen gab. Solche Fehlentscheidungen haben aber nicht nur Folgen für das Unternehmen selbst, sondern auch für die betreffende Person, wobei sie ihr womöglich den Job, die Gesundheit und den sozioökonomischen Status kosten können. Als Konsequenz daraus muss dann der Betroffene aus eigener Kraft «Reparaturarbeiten» leisten, um in eine neue bedeutungsvolle Tätigkeit zurückzufinden. Ein Beispiel hierfür ist das Schicksal des besten Autoverkäufers eines Autohauses, der zum Leiter des gesamten Unternehmens befördert wurde. Sein Pech war aber, dass er nicht nur über keine Führungsqualitäten verfügte, sondern auch, dass der hohe Umsatz, den er als Verkäufer generierte, ausblieb. In seiner Situation sah er sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, von denen er zuvor noch nie etwas gehört hat und für die er weder geschult noch vorbereitet war. Dies steht stellvertretend für das Schicksal mancher Führungskräfte, die sich aufgrund von Schamgefühlen nicht getraut haben, mit ihren Familien oder anderen Vertrauenspersonen über ihre mentale, arbeitsbezogene Überforderung zu sprechen. Einige dieser Schicksale, bei denen es zu einem Ende mit Schrecken kam, fanden den Weg in die Presse, während unzählige andere unerhört blieben. Aufgrund dessen wurden die wenigen, publik gewordenen Schicksale von in der Öffentlichkeit bekannten Personen und deren Familien auf Einzelfälle reduziert. Hier wären einige kritische Fragen durchaus angebracht. Wurde das Thema mentale Gesundheit in Wirtschafts- und ähnlichen Studiengängen zu sehr vernachlässigt und wurden die Studierenden dementsprechend nicht auf mögliche Gefahren aufmerksam gemacht? Sind wir mit den gesundheitskritischen Situationen der Führungskräfte so unachtsam umgegangen, dass wir so manche Signale schlichtweg übersehen haben? Dies sollten wir heutzutage bei den Beförderungen junger Frauen in verantwortungsvolle Führungspositionen klüger und besser machen. Noch hätten wir die Zeit dazu. Ist Prävention besser als Therapie? Wäre es nicht sinnvoller, vorher genauer hinzuschauen, anstatt hinterher Korrekturarbeit und Schadensbegrenzung zu leisten? Daher sollten sich Frauen von vornherein im Klaren sein, was sie in einer Führungsposition erwartet. Ihnen sollte aber ebenso zugetraut werden, selbst zu entscheiden, ob sie die angebotene Führungsposition mit all ihren Risiken und Herausforderungen übernehmen wollen. Heutzutage ist Authentizität bei allen Führungskräften erwünscht, wenn nicht sogar gefordert, was aber nur mit innerer Ausgeglichenheit gelingt. Wie das geht, haben uns Frauen in der Vergangenheit vorbildlich gezeigt.
Frauen in Führungspositionen – ein geschichtlicher Rückblick
In der modernen Menschheitsgeschichte, das heisst seit dem Beginn der Aufklärung und der ersten Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert bekleideten Frauen immer wieder Führungspositionen in bedeutsamen Ämtern, sei dies in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder in der Gesellschaft. Es wird sich kaum ein Historiker bzw. eine Historikerin finden lassen, der bzw. die behaupten würde, dass Frauen in unserer sich stetig weiterentwickelnden Gesellschaft die ganze Zeit von Männern unterdrückt worden seien. So unterstützten sich beide Geschlechter bis anfangs des 20. Jahrhunderts gegenseitig, weil sie von der fundamentalen Motivation des Überlebens getrieben waren. Damals waren die Lebensbedingungen von Hungersnöten, unheilbaren Krankheiten und schwerster körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft geprägt. Aber auch wer eine Arbeit in einer Fabrik fand, wurde mit schier unmenschlichen Arbeitsbedingungen konfrontiert. Zudem lebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein substanzieller Grossteil der Weltbevölkerung (ca. 85 %) in Armut. Angesichts dieser Not ergriffen einige Frauen, die später in die Geschichte eingingen, die Initiative und übernahmen eine Art Führungsrolle. Um ihre Ideen zu verwirklichen und eine positive Entwicklung voranzutreiben, stellten sie sich in den Dienst der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft.
Catherine de Vivonne, marquise de Rambouillet[1] (1588–1665) war eine französische Adelige, die als Schirmherrin und Erfinderin des «Salons» in die Geistes- und insbesondere in die Literaturgeschichte einging. Sie war hochgebildet und beherrschte mehrere Sprachen sowie die Kunst der Architektur. Dabei etablierte sie 1620 den ersten Kultursalon, eine Art eigenen kleinen Hof im Hôtel de Rambouillet, der nach ihren eigenen Plänen erbaut wurde. Dort trafen sich geistig interessierte Hochadelige, darunter der Grand Condé und Kardinal Richelieu, mit kleinadeligen und bürgerlichen Intellektuellen. Um der Entstehung reiner Männergesellschaften entgegenzuwirken, war Cathrine de Vivonne sehr um die Anwesenheit adeliger Damen bemüht. In ihrem Salon trafen sich sowohl Frauen als auch Männer, aber auch Angehörige unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zum Gedankenaustausch und zur gehobenen Unterhaltung. Zur damaligen Zeit galt dies als Novum in der Sozial- und Kulturgeschichte. Es war aber auch die Grundsteinlegung für ein zunächst typisch französisches Phänomen, das bis ins 19. Jahrhundert hinein in zahlreichen Ländern als Vorbild diente und als mondanité (zu Deutsch: Weltlichkeit) bezeichnet wird.
Maria Theresia von Liechtenstein[2] (1694–1772) wurde bekannt als eine der bedeutendsten Wohltäterinnen in der Geschichte des Fürstenhauses von Liechtenstein. Am 16. Januar 1762 wurde die erste der zahlreichen, mithilfe der finanziellen Unterstützung der Adeligen gegründeten Schulen im heutigen Tschechien eröffnet, um armen Kindern einen unentgeltlichen Schulbesuch zu ermöglichen. Zudem zeugen erhaltene Quittungen davon, wie Maria Theresia von Liechtenstein Kirchen, Klöstern und Gemeinden grosse Summen schenkte, um Bildungseinrichtungen zu errichten. Rund 200 Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte Mary Parker Follet (1868–1933)[3], eine US-amerikanische Sozialarbeiterin, Managementtheoretikerin und Unternehmensberaterin von sich reden. Obwohl sie nie ein Unternehmen selbst geleitet hatte, bekam sie grosse Anerkennung für ihr Leadership Engagement. Doch noch mehr Ansehen erlangte sie im Bereich des Managements, weshalb sie damals schon «Mother of Management» genannt wurde. Marie Currie (1867–1934) war eine aus Polen stammende Physikerin, die die meiste Zeit ihres Lebens in Frankreich verbrachte, wo sich auch der Hauptteil ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit konzentrierte. Sie hatte eine führende Rolle in einem von Männern dominierten Wissenschaftszweig inne, um die sie von vielen beneidet wurde. Trotz der Zwistigkeiten rund um ihr Leben in Frankreich wurde sie in den USA, aber auch in weiten Teilen Europas von Vertretern aus Wissenschaft und Politik als eine grossartige Wissenschaftlerin geehrt, gefeiert und unterstützt. Allen oben genannten Frauen ist gemeinsam, dass sie in durchaus herausfordernden Zeiten ihre Initiative ergriffen haben, um sich durchzusetzen sowie ihre Ideen und Visionen zu verwirklichen. Bemerkenswert hierzu ist, dass es damals weder eine Institution noch eine Gesetzgebung gab, die es ihnen auf dem Rechtsweg ermöglicht hätte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Keine von ihnen wurde zur Verwirklichung ihres Vorhabens gedrängt. Ihre Motivation war ihre Leidenschaft für die Sache, und sie entdeckten in ihren Aufgaben das, wofür sie ihre geistige und emotionale Kraft einsetzen wollten.
Wir sollten es besser wissen
Im Gegensatz zu früher verfügen die Menschen heute über so viele Freiheiten wie noch nie zuvor. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, als ob wir uns unter dem Deckmantel «Gutes zu tun» immer mehr einschränken. Dabei versuchen Organisationen, aber auch Teile unserer Gesellschaft, die in den vergangenen 260 Jahren errungenen Freiheiten in ein mit Willkür erschaffenes Korsett zu pressen. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der sowohl die ökonomische «Funktion» des Menschen als auch eine ganze Reihe von Berufen ständig infrage gestellt werden. Des Weiteren wird im digitalen Zeitalter aber auch die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft gegenüber von computergesteuerten Maschinen hervorgehoben. Einerseits sehen wir die sozioökonomische Bedrohung der Arbeitsplätze durch Roboter als Gefahr für unsere Zukunft, und andererseits beeinflussen wir gegenseitig unsere Zukunftspläne. Dabei wird nur allzu schnell übersehen, was das einzelne und souveräne Individuum möchte – ganz so, als ob es nicht wüsste, was das Beste für sein künftiges Leben wäre. Diese Tatsache gibt zu denken.
Geschlechtergleichstellung (Gender Equality) und damit einhergehend das Thema Frauen in Führungspositionen in Unternehmen ist eine Thematik, die berechtigterweise unbedingt in Diskussionen einzubringen ist. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien publiziert, die zweifellos belegen oder belegen wollen, dass wenn Frauen an der Spitze eines Unternehmens sind, deutlich bessere Ergebnisse erzielt werden. Über was jedoch kaum bis gar nie geschrieben wurde, ist, wie es jenen Frauen ergeht, die es bis in die höchst herausfordernden Führungspositionen geschafft haben. Wie vereinbaren sie Privates mit Geschäftlichem? Wie geht es ihnen mental, emotional und körperlich? Wie gut gelingt ihnen die Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit? Dass männliche Führungskräfte in der Vergangenheit häufig an der Überforderung im Arbeitskontext in Verbindung mit dem Privatleben gescheitert sind, scheinen wir ausgeblendet zu haben. Eines steht jedoch fest, dass die Arbeitswelt bis heute keine adäquate Antwort auf das Problem gefunden hat – mal abgesehen von Korrekturmassnahmen, Schadensbegrenzung und der erhöhten Inanspruchnahme von psychiatrisch medizinischen Leistungen im Nachhinein. Obwohl es heisst, dass man hinterher immer schlauer ist, trifft dies in diesem Fall definitiv nicht zu.
Im mehrfach replizierten Artikel «What CEOs are affraid of»[4] beschreibt Roger Jones, Consultant und Autor des Harvard Business Review, unter welchen mentalen Arbeitsbelastungen CEOs einen «guten» Job machen müssen, den sowohl Steakholder als auch Shareholder von ihnen erwarten. Im Jahr 2014 befragte Jones 116 CEOs und andere Führungskräfte, wobei er anschliessend mit 27 von ihnen ausführliche Interviews führte. Zudem waren von den 116 Umfrageteilnehmenden 73 % männlich, 27 % weiblich, und bis auf 9 % waren alle in Europa ansässig. Des Weiteren waren etwa ein Drittel (32 %) CEOs oder Präsidenten eines Verwaltungsrates; 31 % waren Abteilungs-/Geschäftsbereichsleiter; 30 % waren leitende Angestellte, die den Abteilungs-/Geschäftsbereichsleitern unterstellt waren; und 7 % waren in Investment- oder Dienstleistungsunternehmen tätig.
Die grösste Angst, von der die befragten Führungskräfte berichteten, war, dass sie für inkompetent gehalten werden könnten, was auch als das «Imposter-Syndrom» bekannt ist. Diese Angst schmälert ihr Selbstvertrauen und untergräbt die Beziehungen zu anderen Führungskräften. Des Weiteren führten die fünf grössten Ängste zu den folgenden dysfunktionalen Verhaltensweisen: Mangel an ehrlichen Gesprächen, zu viele politische Spielchen, Silo-Denken, fehlende Eigenverantwortung, mangelnde Konsequenz sowie das Tolerieren schlechter Verhaltensweisen. Da dysfunktionale Verhaltensweisen Konsequenzen nach sich ziehen, wurden sie von etwa 500 der Umfrageteilnehmenden genannt. Darunter fielen schlechte Entscheidungsfindung, Konzentration auf das Überleben anstatt auf das Wachstum, das Auslösen von unangebrachtem Verhalten auf der nächsttieferen Ebene und Nichthandeln in Krisensituationen.
Ich wage jedoch die Hypothese aufzustellen, dass wir Gefahr laufen, Frauen unter den genau gleichen Arbeitsbedingungen wie ihre männlichen Kollegen, die die dramatischen Auswirkungen auf die Gesundheit befeuert haben, arbeiten zu lassen. Wenn wir es dieses Mal nicht soweit kommen lassen wollen, sollten wir dringend anfangen, darüber nachzudenken.
Biologische Grundlagen miteinbeziehen
Männer und Frauen sind sich ähnlicher, als dass sie sich stark unterscheiden würden. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts legten tausende von weltweiten, kulturübergreifenden wissenschaftlichen Studien in den Bereichen Evolutionsbiologie, Psychologie und Persönlichkeitspsychologie Erkenntnisse offen, worin sich Männer und Frauen unterscheiden, worin sie sich ähneln und welche Auswirkungen dies auf das Zusammenleben haben könnte. Es lässt sich sagen, dass Männer primär an «Dingen» und Frauen in erster Linie an Menschen interessiert sind[5]. Dies sieht sich darin bestätigt, dass beispielsweise Frauen mehrheitlich in Sozialberufen wie der Pflege tätig sind und in den technischen Berufen wie dem Ingenieurwesen die Männer den Grossteil ausmachen. Wenn die Unterschiede hinsichtlich der Persönlichkeitsdimensionen angesehen werden, ist zu erwähnen, dass nach den international anerkannten und angewandten Big Five Persönlichkeitsfaktoren (FiveFactorInventory/FFI)[6] jener der «Verträglichkeit» bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Verträglich bedeutet, dass diese Person einerseits die sozialen Interaktionen sehr schätzt und vieles daran setzt, dieses friedvolle Miteinander aufrechtzuerhalten. Andererseits birgt dieses Verhalten jedoch die Gefahr, dass jemand bedeutend mehr Energie darauf verwendet, sich primär um andere zu kümmern. Als Folge davon läuft die betreffende Person stärker Gefahr, sich selbst emotional zu vernachlässigen. Dabei variiert der auslösende Reiz für diese Eigenschaft – was sowohl auf Frauen als auch auf Männer zutrifft – die Grundhaltung zwischen Herausforderung und Unterwerfung. Personen, in diesem Fall sind Frauen gemeint, neigen dazu, der Herausforderung aus dem Weg zu gehen, wobei sie eher unterwürfige Verhaltensweisen annehmen. Ein hoher Wert bei der Verträglichkeithängt mit Entspannung und Friedfertigkeit zusammen. Demgegenüber haben niedrige Werte Aggressionen und Starrsinnigkeit zur Folge[7].
Sowohl Männer als auch Frauen können aufgrund psychischer Erkrankungen, die auf die Überbelastung im Berufsleben zurückzuführen sind, dem Arbeitsleben für eine sehr lange Zeit fernbleiben und schliesslich ganz ausscheiden. Wollen wir dies verhindern, sollten wir sowohl biologische als auch psychologische Faktoren zwingend in unsere Überlegung miteinbeziehen. Im Rahmen einer Forschungsarbeit zu Public Health in der Schweiz (die immer noch im Gange ist) habe ich die Aufgabe, unterschiedliche Datensätze rund um das Thema Mental Health der Schweizerinnen und Schweizer zu analysieren und daraus Erkenntnisse für die Arbeitswelt zu ziehen. In medizinischen Fachkreisen ist bekannt, dass im Bereich der psychischen Beeinträchtigungen und insbesondere der Depressionen der Anteil bei Frauen etwa 20 % höher liegt als bei Männern. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) und das Bundesamt für Statistik (BFS) erfassen und veröffentlichen zusammen mit medizinischen Institutionen wie ambulanten und stationären Psychiatrien seit 1998 periodisch die gesundheitsbezogenen Daten der Schweizer Bevölkerung. Dabei hielten die Autoren Dreyer und Schuler[8]in einem Bericht der Obsan aus dem Jahr 2010 (Erhebungszeitraum 2000–2008) Folgendes fest: « […] im Jahr 2008 handelte es sich bei 11% der 83 Mio. in Arztpraxen gestellten Diagnosen um Diagnosen psychischer Störungen. Depressionen (F32–F33, ICD-10)[9] und neurotische Störungen (F40–F48, ICD-10) wurden am häufigsten diagnostiziert (32% bzw. 26%). Betrachtet man die einzelnen Diagnosegruppen, wurden affektive Erkrankungen (F30–F39), zu welchen auch die Depression gehört, fast doppelt so oft bei Frauen wie bei Männern diagnostiziert. Dagegen waren Störungen durch Alkohol oder Drogen (F10–F19) häufiger bei Männern.» Die Autoren legen in einem weiteren Bericht der Obsan offen, dass depressive Störungen ungleich über die soziodemografischen Merkmale verteilt sind. Besonders auffällig dabei sind die Geschlechterunterschiede, wobei sich bei Frauen eine fast doppelt so hohe Prävalenz (Vorherrschen einer Erkrankung) depressiver Störungen zeigt als bei Männern. Zudem liegt die Lebenszeitprävalenz von Depressionen (das heisst, wie viele Personen irgendwann in ihrem Leben schon einmal an einer Krankheit gelitten haben) für Frauen bei rund 21 % und für Männer bei 13 %, wobei Untersuchungen diesen Unterschied konstant in nahezu allen demografischen Gruppen in verschiedenen Kulturen zeigen (Bericht in Nolen-Hoeksema & Hilt)[10]. Das Eidgenössisches Departement des Inneren (EDI) bzw. das Bundesamt für Statistik (BFS) berichteten in einem 2017 veröffentlichten Dokument, dass der Anteil der Frauen in der Altersgruppe der 25- bis 54-Jährigen, die an einer mitteschweren Depression erkrankt waren, durchschnittlich bei 7,5 % lag. Demgegenüber betrug der Anteil der Männer in der gleichen Altersgruppe lediglich 4,7 %. Jedoch waren es im Jahr 2014 doppelt so viele Männer als Frauen (11,9% u. 3,8%), die wegen psychischen Störungen durch Alkohol (22,8%) bzw. durch andere Suchterkrankungen (9,4%) hospitalisiert wurden.[11]
An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass es die Intension dieses Essays ist, die vulnerablen Aspekte aufzuzeigen, damit bei der künftigen Personalauswahl für Führungspositionen eine noch präzisere Auswahl getroffen werden kann. Somit sollen insbesondere Frauen (aber auch Männer) nicht nur auf ihre fachlichen Qualifikationen geprüft werden, sondern es soll auch ihre Resilienz unter die Lupe genommen werden, bevor sie in anspruchsvolle Positionen befördert werden.
Auswahlverfahren, aber mit Achtung
Eine Studie[12] der Universität Zürich versuchte herauszufinden, wie negative Phänomene in einer Unternehmensführung wie Hybris (die Tendenz zur Selbstüberschätzung und Überheblichkeit) gepaart mit der Neigung zum Machtmissbrauch bei Führungspersonen vermieden werden können. Dabei haben sie ein Verfahren aus der Versenkung geholt, das Berichten zufolge bereits im antiken Griechenland angewendet worden sein soll, wobei die Personenauswahl für die Besetzung von Führungspositionen per Los erfolgte. Die Forschungsergebnisse sollen belegen, dass der Zufall (Auswahl per Losverfahren) oft ein besseres Auswahlergebnis liefert, indem die Wahrscheinlichkeit, kompetentere Personen in bedeutungs- und verantwortungsvolle Ämter wie jenes eines CEOs, eines Richters oder eines Lehrstuhls für eine Professur zu befördern, steigt. Wenn die getroffene Auswahl richtig war, so darf sich ein Unternehmen auf eine Zeit ohne Eskapaden freuen. Wenn nicht, wird es nur noch eine Frage zu beantworten haben: Wer hat den Mut, der Person die weitere Amtsausübung zu versagen? Die nachfolgenden Beispiele sollen zeigen, dass in den meisten Fällen nicht die Fachkompetenz der Grund ist, warum eine Frau oder ein Mann als Führungsperson zugelassen oder entlassen wird. Das Laborexperiment veranschaulicht weiter, dass das gerechte Verteilen der zur Verfügung stehenden Geldsumme die Moral der Führungskraft widerspiegelt und dazu beiträgt, ob die Person von der Gruppe zur Führungskraft gewählt wird oder nicht. Hier wäre es interessant zu erfahren, was die Beweggründe jener Personen waren, die die Geldsumme behalten haben. Obwohl es logisch erscheint, primär auf die fachlichen Qualitäten und auf den Umgang mit der monetären Verteilung zu fokussieren, mit dem Ziel, die negativen persönlichen Phänomene dabei ausmerzen zu können, ist dies schwer haltbar. Heidi Möller ist Professorin für Theorie und Methodik der Beratung. Sie ist als Beraterin in der Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitswesen tätig. Dabei hält Möller fest, dass Führungskräfte neben den in ihren Professionen erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, gleich welchen Geschlechts, «soft skills» (sprich soziale Kompetenzen) benötigen. «Kein Mensch kann heute mehr Karriere machen, allein, weil er fachlich gut ist», so Möller. Darüber hinaus warnt die Organisationsberaterin mit über 25 Jahren Erfahrung mit den Worten, «wenn Frauen argumentieren, dass sie die besseren Führungskräfte seien, weil sie ja so wahnsinnig empathisch seien, so muss man bedenken, dass Empathie für eine Führungskraft zwar wichtig sein mag, aber es führt garantiert zum Scheitern, wenn Frauen ihre mütterlichen Qualitäten in den Vordergrund stellen. Diese Debatte ist letztlich stigmatisierend und belebt Rollenfixierungen, die wir doch schon längst überwunden haben sollten.» Zu betonen sei jedoch, dass beispielsweise die Fähigkeit zur «Sinnstiftung» und zur Lösung von Konflikten in einer Organisation eine tragende Rolle spielt. Einerseits muss eine Führungskraft dafür sorgen, dass Mitarbeitende in einem guten Arbeitsklima kreativ und einfallsreich agieren können, andererseits muss sie aber auch in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen. Menschen mit Machtbewusstsein werden dort akzeptiert, wo sie dazu bereit sind, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Denn sie bringen die Menschen in einer Organisation dadurch voran, indem sie durch ihre persönliche und souveräne Stärke widerstreitende Interessen nicht zum Konflikt werden lassen.[13]
Unternehmensziele oder forcierte Diversität
Ob Diversität auf Managementebene sowie bei Mitgliedern des Board of Directors die wirtschaftlichen Vorteile in dem Masse bringt, wie es viele Untersuchungen dargelegt haben, wird sich auf lange Sicht erst noch zeigen müssen. In einem Artikel des Harvard Business Reviews 07/2021 befassten sich ein Autor und eine Autorin mit dem Thema, warum Diversity oft nichts bringt, und wie dieses Vorhaben zieldienlich umgesetzt werden könnte. Robin J. Ely ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School (HBS) und Fachbereichsleiterin der HBS Gender Initiative, wobei sie sich auf die Themen Gender und Race Relations spezialisiert hat. Der Co-Autor David A. Thomas ist emeritierter Professor der Harvard Business School und Präsident des Morehouse College in Atlanta, das zu den historischen afroamerikanischen Colleges und Hochschulen in den USA gehört.
Ihre Untersuchungsergebnisse zeigten, dass es in den vergangenen 25 Jahren den wenigsten Unternehmen gelungen ist, die Vorteile von Diversität für sich zu nutzen. Hierzu meint die Autorenschaft, dass es daran liegen könnte, «dass die Vielfalt nicht als Chance für einen umfassenden Lernprozess betrachtet wurde.» Ihrer Meinung nach machen es sich die Unternehmenslenker und Diversity-Befürworter zu einfach, wobei sie eine grosse Anzahl von Forschungsergebnissen missdeuten oder ignorieren, die mittlerweile deutlich belegen, dass es nicht automatisch Vorteile bringt, wenn mehr Personal aus traditionell unterrepräsentierten gesellschaftlichen Gruppen eingestellt wird. Insbesondere Unternehmen, die alles wie bisher weiterlaufen lassen, prognostizierten Ely und Thomas keine Zuwächse an Effektivität oder Rentabilität. Des Weiteren stellten sie fest, dass Studien, die vor zehn Jahren publiziert wurden, lediglich Korrelationen zeigten, jedoch keine Kausalitäten aufwiesen. Zudem betonten sie, dass es kaum von Bedeutung sein kann, in welchem Geschlechterverhältnis das Unternehmensergebnis erreicht wurde. Denn die Anforderungen, um Jahresziele zu erreichen, müssen von Frauen und Männern gleichermassen erfüllt werden. Dabei sollten sich Managerinnen und Manager klar machen, dass nicht allein die Vergrösserung der demografischen Vielfalt entscheidend ist, um ihr Unternehmen erfolgreicher zu machen. Viel massgebender ist jedoch, wie sie die vorhandene Diversität nutzen und ob sie die Bereitschaft mitbringen, Machtstrukturen neu zu gestalten.
Hier muss hervorgehoben werden, dass es der Autorenschaft um die «richtige» Herangehensweise geht, aber auch wie Unternehmen für sich und für die unterrepräsentierten Gruppen Diversität nutzen. Um eines geht es ihnen aber ganz bestimmt nicht, nämlich darum, ob Diversity-Initiativen im Unternehmen implementiert werden. Denn ein solcher Business Case setzt solide Beweise voraus und beruht auf einer breit gefassten Definition dessen, was ein Unternehmen erfolgreich macht. Zudem benötigt er für sein Gelingen die passenden Rahmenbedingungen. Ely und Thomas schrieben in ihrer Schlussbemerkung dazu Folgendes: Uns beunruhigt, dass offenbar der Eindruck entstanden ist, Investitionen in Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen ließen sich allein durch wirtschaftliche Vorteile rechtfertigen. Warum braucht es ein ökonomisches Argument, um die Leistungsfähigkeit und Würde einer wie auch immer definierten Gruppe von Menschen anzuerkennen? Die notwendigen Investitionen sollten wir vor allem deshalb vornehmen, um unsere eigene Menschlichkeit und die unserer Mitmenschen anzuerkennen und unserem Leben einen Sinn zu geben. Wenn Unternehmensgewinne auf Kosten unserer Menschlichkeit gehen, dann ist der Preis zu hoch. Diversity-Initiativen müssen diese Abwägung berücksichtigen; sonst sind sie so nützlich wie eine Bordkapelle, die weiterspielt, während das Schiff untergeht.[14]
Frauen, Leadership-Skills und Herausforderungen
Die Führungsqualitäten einer Person, gleich welchen Geschlechts, offenbaren sich im Laufe der Zeit und in der Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden, Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten. Dass sich die alten Führungsstile der männlichen Führungskräfte, die seit geraumer Zeit häufig als beinahe obsolet degradiert werden, von den Führungsstilen der Frauen unterscheiden, wird kaum noch bestritten. Dabei kann mit gutem Recht behauptet werden, dass unsere Gesellschaft sowohl wirtschaftlich als auch kulturell an einem Wendepunkt steht. Dasselbe gilt auch für Unternehmen und ihre sozialen Strukturen. Es scheint gerade so, als ob das Bestreben darin läge, künftig vieles möglichst besser zu machen. Dieser frische Wind weht auch durch die Führungsetagen zahlreicher Unternehmen. Dabei halte ich es für eine bedeutsame Errungenschaft, dass Frauen der Zugang in die höheren Führungspositionen deutlich erleichtert wurde. Aus jahrhundertealter Erfahrung wissen wir, wie es sich verhält, wenn Männer miteinander ein Unternehmen oder einen Staat führen sowie welche Vor- und Nachteile eine solche Konstellation mit sich bringt. Doch wie steht es um diese Konstellation, wenn immer mehr Frauen verantwortungsvolle Positionen in Unternehmen bekleiden und auf unterschiedlichen Hierarchiestufen zusammenarbeiten? Wie verhalten sich Kompetenz und Arbeitsbeziehung zueinander? Olga Khazan ist Autorin und Mitarbeiterin von The Atlantic Magazin, wobei sie über Gesundheit, Gender und Politik berichtet. Des Weiteren ist The Atlantic ein renommiertes Magazin, das Beiträge zu Innen- und Aussenpolitik sowie zur Gesellschaft veröffentlicht. Sowohl männliche als auch weibliche Führungskräfte haben Momente der – ich nenne es –Verhaltensunstimmigkeiten, die zu Konflikten führen können. Ein Grund dafür ist, weil Frauen und Männer zur Spezies Mensch gehören. Hierzu berichtet Khazan in einem im Jahr 2017 erschienenen Artikel, warum sich Frauen gegenseitig mobben. Ihren Recherchen zufolge kann sie durchaus belegen, dass Frauen nach bestimmten Massstäben tatsächlich «bessere» Manager sind als Männer. Doch ob fair oder nicht, sie stellte ebenfalls fest, dass Angehörige ihres Geschlechts dazu neigen, sich gegenseitig Steine in den Weg zu legen. Dabei zeigen umfassende Umfragen von Pew und Gallup sowie mehrere akademische Studien, dass Frauen, wenn sie es sich aussuchen könnten, für welches bzw. mit welchem Geschlecht sie arbeiten möchten, grösstenteils Männer bevorzugen würden. Zudem zeigte eine Studie, die im Jahre 2009 in der Zeitschrift Gender in Management veröffentlicht wurde, dass Frauen zwar glauben und davon überzeugt sind, dass andere Frauen gute Managerinnen seien, aber «die weiblichen Beschäftigten nicht wirklich für sie arbeiten wollten.» Je länger eine Frau im Berufsleben stand, so die Studie, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen weiblichen Chef wollte. In einer kleineren Umfrage, an der 142 Sekretärinnen und Assistenten von Anwaltskanzleien – fast alle waren Frauen – teilnahmen, gab keine einzige an, lieber für einen weiblichen Partner arbeiten zu wollen. Demgegenüber äusserten nur 3 %, dass sie gerne einer Mitarbeiterin unterstellt sein möchten. Eine der Sekretärinnen gab sogar ganz offen zu: «Ich vermeide es, für Frauen zu arbeiten, weil (sie) so eine Nervensäge sind.» In einer anderen Studie zeigten Frauen, die einer Chefin unterstellt waren, mehr Stresssymptome wie Schlafstörungen und Kopfschmerzen als Frauen, die für einen Mann arbeiteten. Auch die Evolutionsbiologie scheint die vorangegangenen Eindrücke zu belegen. So glaubt Joyce Benenson, Psychologin am Emmanuel College in Boston, dass Frauen evolutionär dazu prädestiniert sind, nicht mit Frauen zusammenzuarbeiten, mit denen sie nicht verwandt sind. Dabei deuten ihre Forschungen darauf hin, dass Frauen und Mädchen weniger als Männer und Jungen dazu bereit sind, mit Personen desselben Geschlechts mit niedrigerem Status etwas gemeinsam zu erschaffen. Darüber hinaus hielt Benenson fest, dass sie auch eher dazu neigen, gleichgeschlechtliche Freundschaften aufzulösen und sich gegenseitig sozial auszugrenzen. Diesbezüglich weist die Forscherin auf ein ähnliches Verhaltensmuster bei Primaten hin, wobei männliche Schimpansen sich häufiger gegenseitig pflegen als weibliche Tiere und auch öfter zusammenarbeiten, um zu jagen oder ihr Territorium zu schützen. Im Gegensatz dazu schliessen sich weibliche Schimpansen weitaus seltener zusammen. Sie wurden sogar dabei beobachtet, wie sie sich zwischen eine Rivalin und ihren Gefährten drängten, während diese sich begatteten.[15]
Systemrechtfertigung
Der Begriff Systemrechtfertigung wurde erstmals von Jost und Banaji im Jahr 1994 vorgeschlagen und geprägt sowie später von Jost, Banaji und Nosek 2004[16] auf seine heutige Definition aktualisiert. Zudem wird das Schützen der eigenen Person und ihr Verhalten als Stereotypen der Selbstrechtfertigung definiert. Dabei handelt es sich um die Gruppenrechtfertigung, die als Stereotyp festgelegt wird und den Status oder das Verhalten einer sozialen Gruppe schützen soll. Die Theorie hinter der Systemrechtfertigung (System Justification) beschreibt einen Prozess, durch den Menschen Ideologien und Überzeugungen annehmen, um dadurch die soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung zu legitimieren. Dies geschieht auch dann, wenn sich die Unterstützung mit persönlichen Interessen und Gruppeninteressen zu konkurrieren scheint. Trotz ihrer Position als benachteiligte Gruppe können sowohl Frauen als auch Männer die Legitimierung asymmetrischer Geschlechterbeziehungen unterstützen und daran festhalten[17]. Unter diesem Gesichtspunkt werden frühere Studien dahingehend bestätigt, dass Frauen, die das Geschlechtersystem rechtfertigen, keinen gemeinsamen Versuch unternehmen, den ungünstigen Status ihrer Gruppe zu verbessern. Darüber hinaus erwiesen sich frühere Forschungsarbeiten insofern als richtig, als dass sowohl Frauen als auch Männer an Ideologien festhalten, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern legitimieren. Demnach kann sich die Systemrechtfertigung in den künftigen Gender-Equality-Bestrebungen nicht nur seitens der Frauen, sondern auch seitens ihrer männlichen Mitstreiter als «Gegenspielerin» darstellen.
Tokenismus (Alibibeschaffung)
Der Oxford English Dictionary definiert Tokenism (zu Deutsch Tokenismus) als «die Praxis, sich nur oberflächlich oder symbolisch um eine bestimmte Sache zu bemühen, insbesondere durch die Einstellung einer kleinen Anzahl von Personen aus unterrepräsentierten Gruppen, um den Anschein von Geschlechter- oder Rassengleichheit innerhalb einer Belegschaft zu erwecken.» Demgegenüber definiert der Merriam-Webster[18] Dictionary den Begriff wie folgt «die Praxis, etwas zu tun (z. B. eine Person einzustellen, die einer Person, die einer Minderheitengruppe angehört), nur um Kritik zu vermeiden und den Anschein zu erwecken, dass die Menschen fair behandelt werden.» Dadurch wird sichergestellt, dass die notwendigen Massnahmen ergriffen werden, um den Anschein nach aussen zu erwecken, das Unternehmen kümmere sich um die Anforderungen, obwohl die Geisteshaltung (Mindset) unverändert bleibt. Diese künstlich erzeugten Umstände generieren insofern ein Axiom, indem je grösser der Druck auf Unternehmen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Frauen aus der Not heraus und um die Reputation der Firma zu wahren, eingestellt werden. Dies kann dazu führen, dass ihre Allein(stellung) dadurch noch stärker betont wird, was wiederum negativ auf sie zurückfallen kann. Ein entscheidender Schritt zur Bekämpfung von Alibifunktionalität – sowie zur Förderung von Vielfalt und Gleichberechtigung – besteht darin, dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende nicht als alleinige Vertreter ihrer gesamten Gruppe herangezogen werden.
Fazit
«Nehmen Sie die Menschen so wie sie sind, andere gibt es nicht!»
Konrad Adenauer
Unsere ökonomischen und sozialen Entwicklungen werden uns weiterhin vor grosse und schier unüberwindbare Herausforderungen stellen. Rückblickend hat es die Menschheit viel Blut, Schweiss und Tränen gekostet, eine Voraussetzung zu schaffen, dank der wir – neben unzähligen Errungenschaften – immer selbstverständlicher über die Förderung von Frauen in Führungspositionen sprechen können. Führungspositionen im 21. Jahrhundert fordern Personen, die sie bekleiden, immer stärker und stellen sie vor stets schneller wechselnde Herausforderungen, die von ihnen teilweise schier Unmenschliches abverlangen. Diese Tendenzen sind nicht mehr zu übersehen. Die oben genannten Aspekte in Bezug auf die mentale Gesundheit, deren Voraussetzungen aufgrund unserer Evolutionsbiologie bei Mann und Frau gesetzt sind und mit denen wir lernen müssen umzugehen, sollten auch weiterhin nicht unbeachtet bleiben. Obwohl die Komplexität des menschlichen Verhaltes für uns kaum zu bewältigen ist und wir dies auch wissen, gehen wir mit uns selbst um, als ob wir Bügeleisen wären, die nach dem Ursachenprinzip funktionieren. Wie es Wissenschaftler im Bereich der Kybernetik bereits in den 1960er und 1970er Jahren unwiderlegbar dargestellt haben, können komplexe Probleme nur mit komplexen Antworten gelöst werden.[19] Jedoch würde ein näheres Eingehen darauf den Rahmen dieses Essays sprengen. Hier wären auch die Human-Resources-Abteilungen gefordert, um eine adäquate Lösung anzustreben – es bleibt weiterhin spannend, ob sie diese Idee je aufgreifen werden.
Vielmehr gilt es zu hinterfragen, ob die massiven Anstrengungen, so viele Frauen wie möglich und solange bis die angestrebte gerechte Verteilung von 50 zu 50 erreicht ist, in die Führungsetagen zu befördern, etwas mit Gleichberechtigung zu tun hat. Denn die persönliche Präferenz einer Person, was für einen Beruf sie ausüben möchte und wie sie ihr Berufsleben gestalten will, sollte ihrer Autonomie und ihrer Souveränität überlassen werden. Wir sollten Frauen, die künftig Führungspositionen bekleiden werden, weder als Quoten behandeln noch sie als solche darstellen, sondern als Personen, die aus eigenem Willen, mit Aufrichtigkeit und mit inhärenter Motivation von ganzem Herzen ihren Beitrag leisten wollen, wie die zu Beginn erwähnten Frauen, die mit ihren Taten in die Geschichte eingingen.
Die kritischen Situationen, die gesundheitlichen Gefahren und die Herausforderungen in sozialen Interaktionen, die ich oben beschrieben habe, dienen dem Zweck, genau hinzusehen und diese als einen Teil unserer menschlichen Existenz anzuerkennen. Aus ihnen sollen entsprechende Erkenntnisse gewonnen werden, die aktuelle und künftige weibliche Führungskräfte im weiteren Verlauf ihrer Karrieren in ihren Tätigkeiten unterstützen sollen und aus denen sie lernen und sich weiterentwickeln können. Wir sollten unsere weiblichen Führungskräfte, aber auch ihre männlichen Counterparts bei dieser enormen unternehmerischen und sozialen Verantwortung unterstützen und sie mit unserem aktuellen Wissen und Erkenntnissen so gut wie möglich auf künftige Aufgaben vorbereiten. Das heisst, dass sie in ihrer Position mit Authentizität und Aufrichtigkeit eine sinnvolle Aufgabe erfüllen können, die ihnen selbst, ihren Mitarbeitenden und der Gesellschaft dient. Frauen und Männer müssen in einen Dialog miteinander treten, indem sie sich nicht nur gegenseitig akzeptieren und würdigen, sondern ihre Ideale auch vorleben, um einander auf Augenhöhe zu begegnen und die Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Julius Hargitai Zürich, 26. Februar 2022
Literaturquelle
1. Chiappe, J.-F. (1975). Die berühmten Frauen der Welt von A-Z ([Lizenzausgabe]). Somogy.
2. LGT Bank (Schweiz) AG. (o. J.). Geschichte der LGT und des Fürstenhauses Liechtenstein [Firmenwebsite]. Anfänge bis 19. Jahrhundert. Abgerufen 11. Februar 2022.
3. Lucas, J. (2021). Die geheimen Pionierinnen der Wirtschaft: Außergewöhnliche Frauen, die unsere Wirtschaftswelt nachhaltig geprägt haben. REDLINE Verlag.
4. Jones, R. (2015). What CEOs Are Afraid Of. Leadership. https://hbr.org/2015/02/what-ceos-are-afraid-of?autocomplete=true
5. Neyer, F. J., & Asendorpf, Jens B. (2018). Psychologie der Persönlichkeit (6., vollständig überarbeitete Auflage). Springer.
6. McCrae, R. R., & Allik, J. (2012). The Five-Factor Model of Personality Across Cultures. Springer US. https://books.google.ch/books?id=CEvaBwAAQBAJ
7. Howard, P. J., & Mitchell Howard, J. (2002). Führen mit dem Big-Five-Persönlichkeitsmodell: Das Instrument für optimale Zusammenarbeit. (Seite 74) Campus.
8. Dreyer, G. & Schuler, D. (2010). Psychiatrische Diagnosen und Psychopharmaka in Arztpraxen der Schweiz (Obsan Bulletin 1/2010). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
9. ICD -10- GM Version (2020). Systematisches Verzeichnis, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Stand: 20. September 2019. Erscheinungsort: Köln. International statistical classification of diseases and related health problems.
10. Noen-Hoeksema, S., Hilt, L. (2009). Gender Differences in Depression. In: I. Gotlieb, C. Hammen (Hrsg.) Handbook of Depression. The Guilford Press, New York.
11. Schuler, D., Tuch, A., Buscher, N. & Camenzind, P. (2016). Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016 (Obsan Bericht 72). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
12. Berger, J., Osterloh, M., & Rost, K. (2019). Schwerpunkt Chef per Los?(Researchgate).https://www.researchgate.net/publication/342524311_Schwerpunkt_Chef_per_Los
13. Oehler, R., & Mehere Authoren. (2009). Was kann Psychologie? : Wer wir sind und wie wir sein könnten. Andera und Justin Westhoff: Seite 177, Das Funkkolleg Psychologie. Beltz.
14. J. Ely, R., & A. Thomas, D. (o. J.). Warum Diversity oft nichts bringt—Und wie es besser geht. Harvard Business Review, 07/2021 (D), Seite: 65–73.
15. Olsen, S. (2020). Tokenism: What is it & how it affects our workplace. INHERSIGHT. Blog-Artikel/Diversity.
16. Jost, J. T., & Banaji, M. R. (1994). The role of stereotyping in system-justification and the production of false consciousness. British Journal of Social Psychology, 33, 1-27.
17. Dirilen-Gumus, O. (2011). Differences in System Justification with respect to Gender, Political Conservatism, Socio-Economic Status and Religious Fundamentalism. Procedia - Social and Behavioral Sciences, 30, 2607–2611. https://doi.org/10.1016/j.sbspro.2011.10.510
18. Merriam-Webster. (n.d.). Tokenism. In Merriam-Webster.com dictionary. Retrieved February 17, 2022, from https://www.merriam-webster.com/dictionary/tokenism
19. Ashby, W. R. (1974). Einführung in die Kybernetik (Bd. 34). Suhrkamp.